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Es ist das Prinzip der tickenden Zeitbombe, eine Strategie der Aggression, die seit langem ein Teil der menschlichen Gewalt ist. Also haben wir unsere eigenen »Zeitbomben« in die Zellen der Gholas geschleust, um ein bestimmtes Verhalten zu einem Zeitpunkt unserer Wahl zu aktivieren.
Das geheime Handbuch der Tleilaxu-Meister
Das Nicht-Schiff hatte seinen eigenen Zeitablauf, seine eigenen Zyklen. Die meisten Menschen schliefen, bis auf zwei Wachen und die Wartungsteams. Auf den Decks war es still, die Leuchtflächen waren gedimmt. In der halbdunklen Kammer, in der die Axolotl-Tanks standen, lief der Rabbi auf und ab und murmelte Gebete aus dem Talmud.
Sheeana beobachtete den Mann aufmerksam auf einem Überwachungsbildschirm, jederzeit bereit, einen neuen Sabotageakt zu verhindern. Als der Unbekannte drei Gholas und Axolotl-Tanks getötet hatte, hatte er – oder sie – die Überwachungskameras ausgeschaltet, doch Bashar Teg hatte dafür gesorgt, dass das nun nicht mehr möglich war. Alles wurde registriert. Als ehemaliger Suk-Arzt hatte der Rabbi Zugang zur medizinischen Abteilung. Dort hielt er sich häufig in der Nähe dessen auf, was einst eine Frau gewesen war, die er als Rebecca gekannt hatte.
Obwohl der alte Mann alle Fragen beantwortet hatte, die die Wahrsagerinnen ihm gestellt hatten, schenkte Sheeana ihm immer noch nicht ihr uneingeschränktes Vertrauen. Trotz ihrer Bemühungen lief der Saboteur und Mörder weiter frei herum. Und als vor kurzem das leuchtende Netz erschienen war, war ihnen der Feind viel zu nahe gekommen und hatte den Passagieren bewusst gemacht, wie real die Gefahr war. Jeder an Bord hatte es gesehen. Die Bedrohung war unstrittig.
Drei relativ neue Axolotl-Tanks standen auf den Podesten. Freiwillige hatten sich auf Sheeanas Aufruf hin gemeldet, wie sie erwartet hatte. Die drei neuen Tanks produzierten gegenwärtig Melange in flüssiger Form, die in kleine Sammelflaschen tropfte, doch sie hatte bereits mit den Vorbereitungen begonnen, Zellen aus Scytales Nullentropie-Behälter in eine Gebärmutter zu verpflanzen. Ein neuer Embryo, der zu einer anderen historischen Gestalt heranwachsen sollte. Sie würde nicht zulassen, dass der Saboteur sie von der Weiterführung ihres Ghola-Projekts abhielt.
Der Rabbi stand vor den neuen Tanks, und seine Anspannung verriet deutlich, wie sehr er von Verachtung und Abscheu erfüllt war. Er sprach zu einem der unförmigen Fleischklumpen: »Ich hasse dich. Du bist unnatürlich, unheilig.«
Nachdem sie den alten Mann aufmerksam beobachtet hatte, verließ Sheeana die Überwachungsbildschirme, ging zur medizinischen Abteilung und trat lautlos in den Raum. »Ist es ehrenhaft, die Hilflosen zu hassen, Rabbi? Diese Frauen sind keine bewussten, menschlichen Wesen mehr. Warum verachten Sie sie?«
Er fuhr herum, und das Licht spiegelte sich auf seinen Brillengläsern. »Hören Sie auf, mir nachzuspionieren! Ich möchte allein sein, wenn ich für Rebeccas Seele bete.« Rebecca war seine Lieblingsschülerin gewesen, jederzeit bereit, ihren Verstand mit seinem zu messen. Der alte Mann hatte ihr nie verziehen, dass sie sich freiwillig zu einem Tank modifizieren ließ.
»Auch Sie müssen überwacht werden, Rabbi.«
Seine ledrige Haut rötete sich vor Zorn. »Sie und Ihre Hexen hätten auf die Warnungen hören und Ihre grotesken Experimente einstellen sollen. Ich wünschte, die Geehrten Matres hätten auch Scytale aus dem Weg geschafft, als sie sämtliche Welten der Tleilaxu vernichteten. Dann wäre dieses verfluchte Wissen über Tanks und Gholas endgültig verloren gewesen.«
»Die Geehrten Matres haben auch Ihr Volk gejagt, Rabbi. Sie und die Tleilaxu haben einen gemeinsamen Feind.«
»Aber aus völlig unterschiedlichen Gründen. Wir wurden im Lauf der Geschichte immer wieder ungerechtfertigt verfolgt, während die Tleilaxu ihre gerechte Strafe erhalten haben. Ihre eigenen Gestaltwandler haben sich gegen sie gewandt, wie ich gehört habe.« Er trat einen Schritt von der Gebärmutter zurück, um den chemischen und biologischen Ausdünstungen der Tanks zu entgehen. »Ich kann mich kaum noch erinnern, wie Rebecca ausgesehen hat, bevor sie zu diesem Ding wurde.«
Sheeana suchte in ihrem Gedächtnis und bat die Stimmen in ihr um Unterstützung. Diesmal taten sie es, und sie bekam, was sie wollte, als würde sie auf alte Archivbilder zugreifen. In ihrem braunen Gewand und mit den geflochtenen Zöpfen war die Frau eine elegante Erscheinung gewesen. Sie hatte Kontaktlinsen getragen, um die blauen Augen zu verbergen, die von ihrer Gewürzabhängigkeit herrührten.
Mit verbittertem Ausdruck legte der Rabbi eine Hand auf Rebeccas exponierten Körper. Eine Träne rann ihm über die Wange. Er murmelte jedes Mal das Gleiche, wenn er sie besuchte, wie eine Litanei. »Ihr Hexen habt ihr das angetan, ihr habt sie zu einem Monstrum gemacht.«
»Sie ist kein Monstrum, nicht einmal eine Märtyrerin.« Sheeana tippte sich gegen die Stirn. »Rebeccas Gedanken und Erinnerungen sind hier drinnen, wie auch in vielen anderen Schwestern, weil sie mit uns geteilt hat. Rebecca hat getan, was notwendig war, und genauso werden wir es halten.«
»Indem Sie noch mehr Gholas machen? Wird es denn niemals aufhören?«
»Sie machen sich Sorgen wegen eines Steinchens in Ihrem Schuh, während wir versuchen, eine Lawine zu verhindern. Früher oder später werden wir nicht mehr in der Lage sein, erneut vor dem Feind zu flüchten. Dann brauchen wir das Genie und die besonderen Fähigkeiten dieser Gholas, vor allem jene, die das Potenzial haben, zu einem neuen Kwisatz Haderach zu werden. Aber wir müssen sorgfältig mit dem Genmaterial umgehen, es nähren und die richtige Reihenfolge und den richtigen Zeitpunkt für die Entwicklung wählen.« Sie ging zu einem der neuen Tanks hinüber, einer jungen Frau, deren Gestalt sich noch nicht bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte.
Während sie dort stand, bemerkte sie, dass sich ein besorgniserregender Gedanke hartnäckig weigerte, ihr aus dem Sinn zu gehen, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, ihn zu verdrängen. Es war ein absurder Gedankengang, aber er hatte schon den ganzen Tag in ihr gebrodelt. Könnte es sein, dass meine eigenen Fähigkeiten denen eines Kwisatz Haderach äquivalent sind? Ich besitze bereits das natürliche Talent, die großen Sandwürmer zu beherrschen. Ich habe Atreides-Gene in mir und kann auf Wissen zurückgreifen, das in Jahrhunderten von der Schwesternschaft gewonnen wurde. Soll ich es wagen?
Sie spürte, wie ihre inneren Stimmen an die Oberfläche drängten, und eine setzte sich gegen die anderen durch. Die uralte Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Mohiam wiederholte etwas, das sie vor langer Zeit zum jungen Paul Atreides gesagt hatte: »Aber es gibt einen Ort, den keine Wahrsagerin sehen kann, vor dem wir entsetzt zurückschrecken. Es heißt, dass eines Tages ein Mann kommen wird, der fähig ist, mit Hilfe dieser Droge sein inneres Auge zu finden. Er wird sehen, was wir nicht sehen können – sowohl die männlichen als auch die weiblichen Vergangenheiten ... derjenige, der an vielen Orten zugleich sein kann ...« Die Stimme der alten Frau verhallte, ohne Sheeana einen Rat zu geben, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Schnaufend unterbrach der Rabbi ihre Gedanken. »Und Sie vertrauen darauf, dass dieser alte Tleilaxu Ihnen hilft, obwohl er verzweifelt seine eigenen Ziele verfolgt, bevor er sterben muss? Scytale hat diese Zellen über lange Jahre versteckt. Wie viele davon enthalten gefährliche Geheimnisse? Sie haben bereits Gestaltwandlerzellen unter den Proben entdeckt. Wie viele von Ihren Ghola-Missgeburten sind Fallen der Tleilaxu?«
Sie sah ihn leidenschaftslos an und wusste, dass es kein Argument gab, mit dem er sich würde umstimmen lassen. Der Rabbi machte das Zeichen des bösen Auges und ergriff vor ihr die Flucht.
* * *
Duncan begegnete Sheeana in einem ansonsten leeren Korridor im Dämmerlicht der künstlichen Nacht. Die Recycler und Lebenserhaltungssysteme des Nicht-Schiffes sorgten dafür, dass die Luft angenehm kühl war, doch als er sie hier ganz allein sah, verspürte Duncan eine Hitzewelle.
Sheeanas große Augen fixierten ihn wie das Zielerfassungssystem einer Waffe. Seine Haut reagierte mit einem Kribbeln wie von einem statischen elektrischen Feld, und er verfluchte seinen Körper, dass er sich so leicht verführen ließ. Sogar jetzt noch, drei Jahre nachdem Sheeana die lähmenden Ketten von Murbellas Liebe gebrochen hatte, fühlten sich die beiden unwiderstehlich zueinander hingezogen und erlebten unerwartete Sexanfälle, die wilder waren als alles, was er mit Murbella geteilt hatte.
Duncan war es lieber, wenn er die Begleitumstände ihrer Begegnungen organisieren konnte, wobei er immer dafür sorgte, dass andere Personen anwesend waren, dass er ein sicheres Geländer hatte, das ihn vor einem Sturz von der gefährlichen Klippe bewahrte. Es gefiel ihm nicht, wenn er die Kontrolle verlor. Das war schon viel zu oft geschehen.
Er und Sheeana hatten voreinander kapituliert wie zwei ängstliche Menschen, die sich in einer ausgebombten Kampfzone aneinander drückten. Sie hatte ihm die Schwäche ausgebrannt und ihn von Murbellas Einfluss geheilt, und trotzdem kam er sich wie ein Kriegsopfer vor.
Als er jetzt sah, wie Sheeanas Gesichtsausdruck unsicher wurde, glaubte er, dass sie die gleichen Gefühle des Schwindels und der Desorientierung empfand. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen reservierten und rationalen Tonfall zu geben. »Es ist besser, wenn wir es nicht tun. Wir haben zu viele Sorgen, es gibt zu viele Gefahren. Soeben ist ein weiteres Regenerationssystem ausgefallen. Der Saboteur ...«
»Du hast recht. Wir sollten es nicht tun.« Seine Stimme klang heiser, aber sie waren bereits auf einen Weg abgebogen, der immer stärkere Konsequenzen haben würde. Duncan trat zögernd einen Schritt vor. Das gedämpfte Licht im Korridor spiegelte sich an den Metallwänden des Nicht-Schiffes. »Es ist besser, wenn wir es nicht tun«, wiederholte er.
Das Begehren überschwemmte die beiden wie eine Welle. Als Mentat konnte er beobachten und analysieren. Er konnte die Schlussfolgerung ziehen, dass ihr Tun lediglich eine Bestätigung ihres Menschseins war. Wenn sich ihre Fingerspitzen berührten, ihre Lippen, ihre Haut, würden sie beide sich darin verlieren ...
Später ruhten sie sich auf den zerwühlten Laken in Sheeanas Quartier aus. In der Luft hing ein feuchter Moschusduft. Duncan lag befriedigt auf dem Rücken und hatte die Finger im dunklen, drahtigen Haar verschränkt. Er war verwirrt und gleichzeitig von sich selbst enttäuscht. »Du hast mir zu viel von meiner Selbstbeherrschung genommen.«
Sheeana zog im schwachen Licht die Augenbrauen hoch und sah ihn amüsiert an. Er spürte ihren warmen Atem am Ohr. »Aha? Und Murbella hat es nicht getan?« Als Duncan sich abwandte und nicht darauf einging, lachte sie leise. »Du hast ein schlechtes Gewissen! Du glaubst, du hättest sie irgendwie betrogen. Aber wie viele weibliche Prägerinnen hast du auf Ordensburg ausgebildet?«
Er beantwortete die Frage auf seine eigene Weise. »Murbella und ich saßen gemeinsam in einer Falle, und kein Teil unseres Verhältnisses war freiwillig. Wir waren gegenseitig voneinander abhängig, zwei Menschen, die sich gegenseitig in einem Teufelskreis festhielten. Das hatte nichts mit Liebe oder Zärtlichkeit zu tun. Für Murbella war unser Sex – wie für euch alle – nicht mehr als eine ›sachliche Angelegenheit‹. Aber ich habe trotzdem etwas für sie empfunden, verdammt! Es ging nicht darum, ob das richtig oder falsch war. Doch du warst für mich wie eine heftige Entgiftungskur. Für Murbella erfüllte die Agonie den gleichen Zweck, weil sie damit die Bindung an mich brechen konnte.« Er berührte Sheeanas Kinn. »Das kann nicht noch einmal passieren.«
Sie reagierte mit noch stärkerer Belustigung. »Ich stimme dir zu, dass es nicht so sein sollte ... aber es wird trotzdem geschehen.«
»Du bist eine geladene Waffe, eine voll ausgebildete Bene Gesserit. Jedes Mal, wenn wir uns lieben, könntest du dich entscheiden, schwanger zu werden. Ist es nicht genau das, was die Schwesternschaft von dir erwarten würde? Du könntest mein Kind auf die Welt bringen, wenn du nur dazu bereit wärst.«
»Richtig. Aber ich habe es nicht getan. Wir sind weit von Ordensburg entfernt, und ich treffe jetzt meine eigenen Entscheidungen.« Sheeana zog ihn erneut zu sich heran.